Das Zweite Rokoko in der Mode kam nur noch in seiner Endphase mit in
das neue Jahrzehnt hinüber. Im Prinzip – ein genaues Jahr lässt sich
schwer festlegen – war dieser Trend beendet. Parallel dazu schritt
der wirtschaftliche Fortschritt im europäischen Raum mit großem
Tempo voran. Die Großbourgeoisie hatte gegenüber dem Adel an
Einfluss gewonnen, war mächtiger geworden und wollte diesen Status
auch in ihrer Lebensart ausdrücken. Die Möbel wurden protziger,
ebenso auch die Kleidung. Bei den Möbel war es vor allem die
Massenproduktion, die einen neuen Wohnstil ermöglichte, der
bezahlbar war, denn mit
dem neu gewonnen Status ging nicht in jedem Fall enormer Reichtum
einher, wenngleich das Großbürgertum durchaus mit finanziellem
Hintergrund aufwarten konnte. Protzen und angeben war in dem
Jahrzehnt der chaotischen Stil-Mischungen angesagt. Davon war die
Mode nicht ausgenommen. Mit einem Wort – es herrschte stilistisches
Chaos.
Die Krinoline – der mit Rosshaar oder Stahlstäben verstärkte
Unterrock – hatte keinen Bestand mehr in der Damenmode. Stattdessen
hatte sich die Turnüre durchgesetzt. Sie war bereits im Jahr 1869
zunehmend in die Unterbekleidung aufgenommen worden. Es war
aufwändig, so ein Gestell zu konstruieren und umständlich, es zu
tragen. Der Haupteffekt, der erzielt werden sollte, war, das gesamte
hintere Kleidungsteil unterm Rock so zu erweitern und in den
Blickfang zu rücken, dass das Hinterteil zum optischen Vorderteil
wurde. Die Zeit, in der der hintere Teil der Kleidung betont wurde,
nannte man Erste Turnüre. Die Zweite Turnüre kam erst im nächsten
Jahrzehnt. Die derzeitige im 1870er Jahrzehnt hielt sich bis etwa
zur Mitte des Jahrzehnts und sie war bezeichnend für die Damenmode
jener Zeit. Vor allem durch ihre pompöse Wirkung.
Die Turnüre war ein halbkreisförmiges Gebilde, das – wie einst die
Krinoline – aus Fischbeinstäbchen oder aus Stahlstäbchen bestand. Es
war mit Rosshaar gepolstert. Das Ganze wurde dann über dem Gesäß
getragen, so dass der darüber getragene Rock entsprechend
ausgewuchtet war. Im vorderen Bereich war das Kleid natürlich eng
anliegend, schließlich sollten die Blicke auf das pompöse Hinterteil
gehen. Diese Erste Turnüre bot – ebenso wir ein paar Jahre später
die Zweite Turnüre – reichlich Anlass zum Spott. Die Silhouette war
in der Tat sehr komisch, vor allem unnatürlich. Das unerlässliche
Korsett, in das sich jede Frau zudem hineinzwängte, die etwas auf
sich hielt, drückte den Busen nach oben krönte die spitzen oder auch
viereckigen Ausschnitte mit einem ansehenswerten Dekolleté.
Eine eher ungewöhnliche Modeerscheinung, die sich um das 1870er
Jahrzehnt herauskristallisiert hatte, war die Betonung des
weiblichen Unterleibes, die mit Plissierungen, Raffungen oder auch
durch Falten erreicht wurde. Ungewöhnlich war dieser modische
Einfall vor allem deshalb, weil es normalerweise als unschicklich
galt, den Unterleib zu betonen als wäre Frau in anderen Umständen.
Doch es handelte sich hier keineswegs um eine Schwangerschaftsmode,
vielleicht um eine modische Verirrung. Sie verschwand auch noch
relativ kurzer Zeit wieder.
Zur vollendeten Kleidung gehörte für die Damen in jedem Fall ein
Fächer. Ein fein gearbeiteter Sonnenschirm, der mit
Spitzenverzierung schon eine Alternative zum Fächer bot, wurde in
diesem Jahrzehnt zunehmend als Accessoires benutzt. Davon hatten die
Damen meist eine ansehnliche Auswahl für alle möglichen
Gelegenheiten parat. Ebenso gut ausgestattet waren sie mit
Handschuhen und Schleiern, die ihre Garderobe elegant
vervollständigten. Die Hutmode jener Zeit war apart. Auf den
hochgesteckten Frisuren – die waren ebenfalls modern – trugen die
Damen nur ein Hütchen, das das haarige Kunstwerk nicht verdeckte,
sondern nur krönte. Die kleinen Hüte waren mit Bändern verziert, die
bis auf die Schultern reichten und dem Kopfschmuck einen
zusätzlichen Farbtupfer gaben. Interessant war, wie die Hütchen
getragen wurden. Hier wurde je nach Gelegenheit eine kecke schräge
Art des Aufsetzens mit einer Hinterkopfvariante variiert. Auch ganz
gerade passte sich das Hütchen auf dem Kopf der Mode an. Egal, wie
es getragen wurden, apart waren sie alle und sie wurden zudem mit
einer Schleife unterm Kinn gebunden. Diese Kapotthütchen, die auch
für die Biedermeierzeit typisch waren, hielten sich noch über viele
Jahrzehnte im Wechsel mit anderen Modellen.
Seit etwa 1867 bis 1875 trugen die Damen auch Tuniken. In der
normalen Tagesbekleidung hatte dieses Kleidungsstück als sehr
praktisch erwiesen. Dieses Überkleid war in abgewandelter Form dem
Hemdgewand ähnlich, das bereits die Frauen im alten Ägypten getragen
hatten. Im 1870er Jahrzehnt zogen es die Damen an, wenn es für einen
Mantel oder einen Umhang zu warm war, aber dennoch zu kühl, um ohne
eine Überbekleidung nach draußen zu gehen. Verziert waren die
Tuniken zumeist mit Spitzenbesatz an den Ärmeln, manche waren auch
nur mit einem kleinen Rüschenabschluss versehen.
Die Alltagskleider waren hochgeschlossen geknöpft. Sie hatten am
Hals nur einen kleinen, fast unauffälligen Kragen. Auffallend
dagegen war der Kutscherkragen des Mantels, der darüber getragen
wurde. Dieser Carrickkragen entstammte der Männermode und war zu
jener Zeit der letzte Schrei. Er fiel auf, weil mehrere Stoffbahnen
in Etagen übereinander lagen, deren einzelne Lage unterschiedliche
Ausmaße hatten. Der Carrickkragen, der auch als Kutscherkragen
bekannt war, war keine Pariser Modeerfindung – er kam aus England.
Man sah ihn bei Damen und Herren gleichermaßen, er wurde vor allem
als Reisemantel getragen.
Die Abendgarderobe folgte wieder den Trendvorgaben aus Paris, wo
sich bereits seit 1858 das Modehaus von Charles Frederick Worth
(1853-1929) etabliert hatte und das kunstvoll kreierte Kleider
präsentierte, die maßgeblich die Damenmode, und zwar ausschließlich
die Damenmode, beeinflussten. Worth, der als Begründer der Haute
Couture in die Modegeschichte einging, machte seinen Namen auch
gleichzeitig zum Modelabel, womit er der Erste war, der das tat. Er
sah sich ohnehin als Künstler, weniger als „Stoffhandwerker“.
Die Männer unterlagen modisch keinem Trend. Sie trugen Stoffe in
dezenten, dunklen Farben und waren mit Sakkos, Gehröcken (Cutaway)
und gerade geschnittenen Hosen, dazu Hemd und Weste akkurat
gekleidet. Ihre Garderobe war sachlich und praktisch und hinderte
auch nicht bei diversen Arbeiten. Modisch folgten die Herren dem
englischen Stil. Dem Frack, der aus der Alltagsmode zunehmend
verschwand, blieben die festlichen Anlässe vorbehalten.
Da den Herren trotz der Schlichtheit ihrer Bekleidung dafür
Accessoires umso wichtiger waren, entwickelten sich Geschäfte, die
auf Krawatten und anderes Kleidungszubehör für Männer spezialisiert
waren.