Das Modejahrzehnt 1870 bis 1879

Das Zweite Rokoko in der Mode kam nur noch in seiner Endphase mit in das neue Jahrzehnt hinüber. Im Prinzip – ein genaues Jahr lässt sich schwer festlegen – war dieser Trend beendet. Parallel dazu schritt der wirtschaftliche Fortschritt im europäischen Raum mit großem Tempo voran. Die Großbourgeoisie hatte gegenüber dem Adel an Einfluss gewonnen, war mächtiger geworden und wollte diesen Status auch in ihrer Lebensart ausdrücken. Die Möbel wurden protziger, ebenso auch die Kleidung. Bei den Möbel war es vor allem die Massenproduktion, die einen neuen Wohnstil ermöglichte, der bezahlbar war, denn mit
dem neu gewonnen Status ging nicht in jedem Fall enormer Reichtum einher, wenngleich das Großbürgertum durchaus mit finanziellem Hintergrund aufwarten konnte. Protzen und angeben war in dem Jahrzehnt der chaotischen Stil-Mischungen angesagt. Davon war die Mode nicht ausgenommen. Mit einem Wort – es herrschte stilistisches Chaos.
Die Krinoline – der mit Rosshaar oder Stahlstäben verstärkte Unterrock – hatte keinen Bestand mehr in der Damenmode. Stattdessen hatte sich die Turnüre durchgesetzt. Sie war bereits im Jahr 1869 zunehmend in die Unterbekleidung aufgenommen worden. Es war aufwändig, so ein Gestell zu konstruieren und umständlich, es zu tragen. Der Haupteffekt, der erzielt werden sollte, war, das gesamte hintere Kleidungsteil unterm Rock so zu erweitern und in den Blickfang zu rücken, dass das Hinterteil zum optischen Vorderteil wurde. Die Zeit, in der der hintere Teil der Kleidung betont wurde, nannte man Erste Turnüre. Die Zweite Turnüre kam erst im nächsten Jahrzehnt. Die derzeitige im 1870er Jahrzehnt hielt sich bis etwa zur Mitte des Jahrzehnts und sie war bezeichnend für die Damenmode jener Zeit. Vor allem durch ihre pompöse Wirkung.
Die Turnüre war ein halbkreisförmiges Gebilde, das – wie einst die Krinoline – aus Fischbeinstäbchen oder aus Stahlstäbchen bestand. Es war mit Rosshaar gepolstert. Das Ganze wurde dann über dem Gesäß getragen, so dass der darüber getragene Rock entsprechend ausgewuchtet war. Im vorderen Bereich war das Kleid natürlich eng anliegend, schließlich sollten die Blicke auf das pompöse Hinterteil gehen. Diese Erste Turnüre bot – ebenso wir ein paar Jahre später die Zweite Turnüre – reichlich Anlass zum Spott. Die Silhouette war in der Tat sehr komisch, vor allem unnatürlich. Das unerlässliche Korsett, in das sich jede Frau zudem hineinzwängte, die etwas auf sich hielt, drückte den Busen nach oben krönte die spitzen oder auch viereckigen Ausschnitte mit einem ansehenswerten Dekolleté.
Eine eher ungewöhnliche Modeerscheinung, die sich um das 1870er Jahrzehnt herauskristallisiert hatte, war die Betonung des weiblichen Unterleibes, die mit Plissierungen, Raffungen oder auch durch Falten erreicht wurde. Ungewöhnlich war dieser modische Einfall vor allem deshalb, weil es normalerweise als unschicklich galt, den Unterleib zu betonen als wäre Frau in anderen Umständen. Doch es handelte sich hier keineswegs um eine Schwangerschaftsmode, vielleicht um eine modische Verirrung. Sie verschwand auch noch relativ kurzer Zeit wieder.
Zur vollendeten Kleidung gehörte für die Damen in jedem Fall ein Fächer. Ein fein gearbeiteter Sonnenschirm, der mit Spitzenverzierung schon eine Alternative zum Fächer bot, wurde in diesem Jahrzehnt zunehmend als Accessoires benutzt. Davon hatten die Damen meist eine ansehnliche Auswahl für alle möglichen Gelegenheiten parat. Ebenso gut ausgestattet waren sie mit Handschuhen und Schleiern, die ihre Garderobe elegant vervollständigten. Die Hutmode jener Zeit war apart. Auf den hochgesteckten Frisuren – die waren ebenfalls modern – trugen die Damen nur ein Hütchen, das das haarige Kunstwerk nicht verdeckte, sondern nur krönte. Die kleinen Hüte waren mit Bändern verziert, die bis auf die Schultern reichten und dem Kopfschmuck einen zusätzlichen Farbtupfer gaben. Interessant war, wie die Hütchen getragen wurden. Hier wurde je nach Gelegenheit eine kecke schräge Art des Aufsetzens mit einer Hinterkopfvariante variiert. Auch ganz gerade passte sich das Hütchen auf dem Kopf der Mode an. Egal, wie es getragen wurden, apart waren sie alle und sie wurden zudem mit einer Schleife unterm Kinn gebunden. Diese Kapotthütchen, die auch für die Biedermeierzeit typisch waren, hielten sich noch über viele Jahrzehnte im Wechsel mit anderen Modellen.
Seit etwa 1867 bis 1875 trugen die Damen auch Tuniken. In der normalen Tagesbekleidung hatte dieses Kleidungsstück als sehr praktisch erwiesen. Dieses Überkleid war in abgewandelter Form dem Hemdgewand ähnlich, das bereits die Frauen im alten Ägypten getragen hatten. Im 1870er Jahrzehnt zogen es die Damen an, wenn es für einen Mantel oder einen Umhang zu warm war, aber dennoch zu kühl, um ohne eine Überbekleidung nach draußen zu gehen. Verziert waren die Tuniken zumeist mit Spitzenbesatz an den Ärmeln, manche waren auch nur mit einem kleinen Rüschenabschluss versehen.
Die Alltagskleider waren hochgeschlossen geknöpft. Sie hatten am Hals nur einen kleinen, fast unauffälligen Kragen. Auffallend dagegen war der Kutscherkragen des Mantels, der darüber getragen wurde. Dieser Carrickkragen entstammte der Männermode und war zu jener Zeit der letzte Schrei. Er fiel auf, weil mehrere Stoffbahnen in Etagen übereinander lagen, deren einzelne Lage unterschiedliche Ausmaße hatten. Der Carrickkragen, der auch als Kutscherkragen bekannt war, war keine Pariser Modeerfindung – er kam aus England. Man sah ihn bei Damen und Herren gleichermaßen, er wurde vor allem als Reisemantel getragen.
Die Abendgarderobe folgte wieder den Trendvorgaben aus Paris, wo sich bereits seit 1858 das Modehaus von Charles Frederick Worth (1853-1929) etabliert hatte und das kunstvoll kreierte Kleider präsentierte, die maßgeblich die Damenmode, und zwar ausschließlich die Damenmode, beeinflussten. Worth, der als Begründer der Haute Couture in die Modegeschichte einging, machte seinen Namen auch gleichzeitig zum Modelabel, womit er der Erste war, der das tat. Er sah sich ohnehin als Künstler, weniger als „Stoffhandwerker“.
Die Männer unterlagen modisch keinem Trend. Sie trugen Stoffe in dezenten, dunklen Farben und waren mit Sakkos, Gehröcken (Cutaway) und gerade geschnittenen Hosen, dazu Hemd und Weste akkurat gekleidet. Ihre Garderobe war sachlich und praktisch und hinderte auch nicht bei diversen Arbeiten. Modisch folgten die Herren dem englischen Stil. Dem Frack, der aus der Alltagsmode zunehmend verschwand, blieben die festlichen Anlässe vorbehalten.
Da den Herren trotz der Schlichtheit ihrer Bekleidung dafür Accessoires umso wichtiger waren, entwickelten sich Geschäfte, die auf Krawatten und anderes Kleidungszubehör für Männer spezialisiert waren.