Das Modejahrzehnt 1890 bis 1899

Das Jahrzehnt war vom Jugendstil geprägt, der sich in unterschiedlichen kunstgeschichtlichen Bereichen ausdrückte, u. a. in der Architektur. Paris bestimmte, was Frauen im europäischen Raum tragen sollten. Paris setzte Trends. Aber auch den französischen Modemachern gelang es nicht, das ungesunde Korsett zu beseitigen. Eine Wespentaille hatte Frau eben nur, wenn sie sich schnürte, bis der Atem zu schwinden
begann. Dessen ungeachtet machte sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine große modische Vielfalt breit, die ebenso die Farben wie die Materialien und auch die Muster betraf. Hier konnten die Modemacher ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Die Damen waren entzückt, denn was feminin war, wurde herausgestellt. Die bodenlangen Kleider und Röcke, deren Weite im Gegensatz zur Zeit der Krinolinen und Turnüren ein bequemes Laufen ermöglichte, wurden nur durch das vermaledeite Korsett beeinträchtigt.
Gegen dieses wohl ungesündeste Kleidungsstück der letzten Jahrzehnte kamen selbst namhafte Ärzte, Künstler und Modeschöpfer nicht an, obwohl man sich in Vereinen zusammengeschlossen hatte, um den Kampf gemeinsam auszutragen. Doch für die sogenannte Reformbekleidung – die Garderobe ohne Korsett – war die Zeit noch nicht reif genug. Da aber die Aktivitäten, die die Damen für ihre Freizeit bevorzugten (u. a. Reiten oder Golfspielen) eine bequemere Kleidung erforderte, wurden sie in der Veränderung ihrer Garderobe selbst erfinderisch. Das Korsett behielt zwar noch seine Vormachtstellung, die Länge der Röcke jedoch wurde den Sportbewegungen entsprechend ein wenig verändert. Eine echte Entspanntheit war allerdings noch nicht in Sicht.
Dominierend für das Jahrzehnt war in jedem Fall der Wandel der Silhouette – die gerade Form der Kleidung wich bis zum Ende des Jahrzehnts der S-Form, der Sans-Ventre-Linie (ohne Bauch). Unterstützt durch das Korsett waren die echten femininen Formen noch nicht modern.
Die Damenblusen ähnelten im Schnitt den Herrenhemden, was durch die Verzierungen mit Rüschen am Kragenbereich und vor allem an den Ärmeln nicht mehr wahrgenommen wurde. Die einfachen Blusenschnitte hatten als modische Zier Knopfleisten, die ebenfalls mit Rüschen oder einem Jabot aufgeputzt waren. Die schlanke Taille wurde auch betont – nicht nur durch das Korsett – sondern durch Rücken-Knopfleisten. Die Blusen wurden generell in den Rock hineingesteckt getragen. Die Taille bekam durch breite Gürtel zusätzlichen Schmuck. Bei den Damenblusen und auch bei den Herrenhemden war Weiß die angesagte Modefarbe. Der Rock wurde ab der Kniehöhe allmählich weiter. Die Weite, die einst noch durch die Krinoline hervorgerufen wurde, veränderte sich, denn die Krinoline gehörte der Vergangenheit an. Jedenfalls nach und nach, ebenso die Turnüre, die das Gesäß betonte. Egal, ob durchgehend glatt fallend oder im unteren Rocksegment glockig gearbeitet; es blieb die schmale Taille, die eine Figur zur Sanduhr-Figur machte. Meist hatten die Röcke sogar noch eine kleine Schleppe, die aber längst nicht mehr auffällig war.
Die Ärmel der Blusen und Kleideroberteile lagen entweder eng an oder sie gewannen an Auffälligkeit durch die angepufften Oberärmel. Möglich waren auch enge Ärmel am Handgelenk, die vom Ellenbogen ab weiter bis glockig wurden. Keulenärmel oder auch sogenannte übergroße Elefantenärmel kamen in Mode. Erst am Ende des 1890er Jahrzehnts wurden die auffälligen Ärmel wieder unauffälliger und so blieb es bis in die Anfangsjahre des neuen Jahrhunderts. Einem modischen Trend dieser Art zu folgen, bedeutete, nicht arbeiten zu müssen. Der vornehme gesellschaftliche Status trat wieder mehr zum Vorschein. An den glockenförmigen, großen Saumteilen in Verbindung mit dem engen Rock zeigte sich Eleganz, wie sie nur von der vornehmen Gesellschaft getragen werden konnte. Der weibliche Teil der arbeitenden Bevölkerung konnte sich diesen Luxus nicht leisten.
Die schlanke Silhouette wurde durch aufwändige Hüte gekrönt. Üppige Verzierungen, Bänder, Federn oder auch Blumen- und Tiergestaltungen waren hier vorrangig en vogue. Während die Kopfbedeckung der Damen auffallend war, hielt sich die Größe der Hüte im Vergleich zum Aufwand noch in Grenzen. Sie fielen lediglich durch ihre Pracht auf, noch nicht durch ihre Wagenrad-Größe.
Sonnenschirme ersetzten den Fächer, ein Schirm war erstens praktisch gegen die Sonne und zweitens modern.
Für die Männer, die ohnehin immer ein Stiefkind modischer Veränderungen waren, hatte sich auch in diesem Jahrzehnt kaum etwas Gravierendes getan. Der gut gekleidete Herr trug Hemd, Weste und Sakko, das auch mit dem Cutaway, dem Gehrock, variiert werden konnte. Alles hatte noch eine leichte Taillierung und die Hosen hatten unverzichtbarerweise Bügelfalten. Die Stoffe waren durchaus edel, hielten sich aber in schlichten Farben, Ausnahmen waren die gestreift gemusterten Hosen. Der Mann war vollständig und modisch angezogen, wenn er zu allem noch einen Hut trug. Zumeist war es noch ein Zylinder, aber die runden Melonen eroberten sich bereits die Männerköpfe.
Was Paris für die Damen war, das war England für die Herren. Englisch war schlicht und modern. Es entbehrte dennoch keiner Eleganz, denn die Männer ergänzten ihr Aussehen noch mit einem schmucken Stock. Eine echte Veränderung hatte es in der Herrenmode lediglich in Sachen Kragen gegeben. Es gab Kragen, die Mann umlegen konnte. Kragen zum Anknöpfen hatten sich durchgesetzt und auch das steife Chemisette, das Vorhemd, das unter der Weste den Anschein eines Hemdes erweckte hatte den Weg in die Männermode gefunden.
Die Moderegeln waren noch relativ streng, sie lösten sich erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts etwas auf. Die Damen nahmen in jedem Fall ihr Korsett mit ins 1900er Jahrzehnt.