Das Jahrzehnt war vom Jugendstil geprägt, der sich in
unterschiedlichen kunstgeschichtlichen Bereichen ausdrückte, u. a.
in der Architektur. Paris bestimmte, was Frauen im europäischen Raum
tragen sollten. Paris setzte Trends. Aber auch den französischen
Modemachern gelang es nicht, das ungesunde Korsett zu beseitigen.
Eine Wespentaille hatte Frau eben nur, wenn sie sich schnürte, bis
der Atem zu schwinden
begann. Dessen ungeachtet machte sich im letzten Jahrzehnt des 19.
Jahrhunderts eine große modische Vielfalt breit, die ebenso die
Farben wie die Materialien und auch die Muster betraf. Hier konnten
die Modemacher ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Die Damen waren
entzückt, denn was feminin war, wurde herausgestellt. Die
bodenlangen Kleider und Röcke, deren Weite im Gegensatz zur Zeit der
Krinolinen und Turnüren ein bequemes Laufen ermöglichte, wurden nur
durch das vermaledeite Korsett beeinträchtigt.
Gegen dieses wohl ungesündeste Kleidungsstück der letzten Jahrzehnte
kamen selbst namhafte Ärzte, Künstler und Modeschöpfer nicht an,
obwohl man sich in Vereinen zusammengeschlossen hatte, um den Kampf
gemeinsam auszutragen. Doch für die sogenannte Reformbekleidung –
die Garderobe ohne Korsett – war die Zeit noch nicht reif genug. Da
aber die Aktivitäten, die die Damen für ihre Freizeit bevorzugten
(u. a. Reiten oder Golfspielen) eine bequemere Kleidung erforderte,
wurden sie in der Veränderung ihrer Garderobe selbst erfinderisch.
Das Korsett behielt zwar noch seine Vormachtstellung, die Länge der
Röcke jedoch wurde den Sportbewegungen entsprechend ein wenig
verändert. Eine echte Entspanntheit war allerdings noch nicht in
Sicht.
Dominierend für das Jahrzehnt war in jedem Fall der Wandel der
Silhouette – die gerade Form der Kleidung wich bis zum Ende des
Jahrzehnts der S-Form, der Sans-Ventre-Linie (ohne Bauch).
Unterstützt durch das Korsett waren die echten femininen Formen noch
nicht modern.
Die Damenblusen ähnelten im Schnitt den Herrenhemden, was durch die
Verzierungen mit Rüschen am Kragenbereich und vor allem an den
Ärmeln nicht mehr wahrgenommen wurde. Die einfachen Blusenschnitte
hatten als modische Zier Knopfleisten, die ebenfalls mit Rüschen
oder einem Jabot aufgeputzt waren. Die schlanke Taille wurde auch
betont – nicht nur durch das Korsett – sondern durch
Rücken-Knopfleisten. Die Blusen wurden generell in den Rock
hineingesteckt getragen. Die Taille bekam durch breite Gürtel
zusätzlichen Schmuck. Bei den Damenblusen und auch bei den
Herrenhemden war Weiß die angesagte Modefarbe. Der Rock wurde ab der
Kniehöhe allmählich weiter. Die Weite, die einst noch durch die
Krinoline hervorgerufen wurde, veränderte sich, denn die Krinoline
gehörte der Vergangenheit an. Jedenfalls nach und nach, ebenso die
Turnüre, die das Gesäß betonte. Egal, ob durchgehend glatt fallend
oder im unteren Rocksegment glockig gearbeitet; es blieb die schmale
Taille, die eine Figur zur Sanduhr-Figur machte. Meist hatten die
Röcke sogar noch eine kleine Schleppe, die aber längst nicht mehr
auffällig war.
Die Ärmel der Blusen und Kleideroberteile lagen entweder eng an oder
sie gewannen an Auffälligkeit durch die angepufften Oberärmel.
Möglich waren auch enge Ärmel am Handgelenk, die vom Ellenbogen ab
weiter bis glockig wurden. Keulenärmel oder auch sogenannte
übergroße Elefantenärmel kamen in Mode. Erst am Ende des 1890er
Jahrzehnts wurden die auffälligen Ärmel wieder unauffälliger und so
blieb es bis in die Anfangsjahre des neuen Jahrhunderts. Einem
modischen Trend dieser Art zu folgen, bedeutete, nicht arbeiten zu
müssen. Der vornehme gesellschaftliche Status trat wieder mehr zum
Vorschein. An den glockenförmigen, großen Saumteilen in Verbindung
mit dem engen Rock zeigte sich Eleganz, wie sie nur von der
vornehmen Gesellschaft getragen werden konnte. Der weibliche Teil
der arbeitenden Bevölkerung konnte sich diesen Luxus nicht leisten.
Die schlanke Silhouette wurde durch aufwändige Hüte gekrönt. Üppige
Verzierungen, Bänder, Federn oder auch Blumen- und Tiergestaltungen
waren hier vorrangig en vogue. Während die Kopfbedeckung der Damen
auffallend war, hielt sich die Größe der Hüte im Vergleich zum
Aufwand noch in Grenzen. Sie fielen lediglich durch ihre Pracht auf,
noch nicht durch ihre Wagenrad-Größe.
Sonnenschirme ersetzten den Fächer, ein Schirm war erstens praktisch
gegen die Sonne und zweitens modern.
Für die Männer, die ohnehin immer ein Stiefkind modischer
Veränderungen waren, hatte sich auch in diesem Jahrzehnt kaum etwas
Gravierendes getan. Der gut gekleidete Herr trug Hemd, Weste und
Sakko, das auch mit dem Cutaway, dem Gehrock, variiert werden
konnte. Alles hatte noch eine leichte Taillierung und die Hosen
hatten unverzichtbarerweise Bügelfalten. Die Stoffe waren durchaus
edel, hielten sich aber in schlichten Farben, Ausnahmen waren die
gestreift gemusterten Hosen. Der Mann war vollständig und modisch
angezogen, wenn er zu allem noch einen Hut trug. Zumeist war es noch
ein Zylinder, aber die runden Melonen eroberten sich bereits die
Männerköpfe.
Was Paris für die Damen war, das war England für die Herren.
Englisch war schlicht und modern. Es entbehrte dennoch keiner
Eleganz, denn die Männer ergänzten ihr Aussehen noch mit einem
schmucken Stock. Eine echte Veränderung hatte es in der Herrenmode
lediglich in Sachen Kragen gegeben. Es gab Kragen, die Mann umlegen
konnte. Kragen zum Anknöpfen hatten sich durchgesetzt und auch das
steife Chemisette, das Vorhemd, das unter der Weste den Anschein
eines Hemdes erweckte hatte den Weg in die Männermode gefunden.
Die Moderegeln waren noch relativ streng, sie lösten sich erst zu
Beginn des neuen Jahrhunderts etwas auf. Die Damen nahmen in jedem
Fall ihr Korsett mit ins 1900er Jahrzehnt.